Prokrastination & die ewige Aufschieberitis: Warum wird alles aufgeschoben? - Trauma als Ursache von Prokrastination

Prokrastination

Das Starren auf den blinkenden Cursor

Okay, jetzt fange ich an.

Du setzt dich hin. Du öffnest das leere Dokument. Der Cursor blinkt. Und... nichts.

Stattdessen überfällt dich eine plötzliche, bleierne Müdigkeit.

Dein Gehirn fühlt sich an wie in Watte gepackt.

Nur mal eine kleine Ablenkung. Du greifst zum Handy, "nur mal kurz Mails checken" und Hausarbeit ist ja auch noch zu erledigen ... und eine Stunde ist auf magische Weise verschwunden.

Sofort ist sie da, diese unangenehme innere Stimme:
"Was ist falsch mit mir?! Alle anderen kriegen das hin. Ich bin einfach nur faul und disziplinlos."

Stopp.

Was, wenn ich dir sage, dass du nicht faul bist?

Das du unter keiner psychischen Störung  oder "Arbeitsstörung" leidest.

Was, wenn diese Lähmung, dieser Drang des aufschiebens, überhaupt nichts mit Faulheit oder schlechter Disziplin zu tun hat?

Was, wenn Prokrastination ein uralter, intelligenter Schutzmechanismus deines Körpers ist?
Ein biologischer "Freeze" (ein Einfrieren), der dich vor einer wahrgenommenen Gefahr schützen will – einer Gefahr, die ihre Wurzeln oft tief in altem Bindungstrauma hat.

Klingt das weit hergeholt?

Lass uns mal den gewaltigen Unterschied zwischen "keine Lust haben" (prokrastinieren) und "wie gelähmt sein" anschauen.

 
 

Was ist der Unterschied:
"Keine Lust" (Prokrastination) oder "Wie gelähmt" (Freeze)?

Das ist der wichtigste Punkt:
Wir werfen zwei völlig verschiedene Dinge in einen Topf.

  1. "Echte" Prokrastination (Verhalten):
    Das ist, wenn du keine Lust auf eine langweilige Aufgabe hast (z.B. Steuererklärung) und dich bewusst entscheidest, stattdessen etwas Schöneres zu tun (Netflix). Es ist ein "Ich will nicht."

  2. Der "Freeze" (Trauma-Reaktion):
    Das ist, wenn du die Aufgabe eigentlich machen willst, aber dein Körper streikt. Es ist ein "Ich kann nicht." Es fühlt sich an wie Nebel im Gehirn, plötzliche Müdigkeit oder eine unsichtbare Wand.

Und genau hier scheitern alle To-Do-Listen, Zeitmanagement-Tricks und Produktivitäts-Hacks.

Diese Methoden gehen davon aus, dass dein "Denkhirn" (die Chefetage) nur einen besseren Plan braucht. Aber bei einem "Freeze" ist das Denkhirn offline. Die Notbremse wird tief unten im "Hirnstamm" (dem uralten Alarmsystem) gezogen.

Einer Person im Freeze zu sagen: "Reiß dich zusammen!", ist, als würde man einen Computer benutzen wollen, dessen Stecker nicht in der Steckdose steckt. Es ist nicht realistisch und funktioniert nicht. Es macht alles nur schlimmer und verstärkt die Scham.

Aber warum?

Warum stuft dein Körper eine simple E-Mail als "lebensgefährlich" ein?

Warum dein Körper bei einer E-Mail "Alarm" schreit (Die Wurzel im Bindungstrauma)

Dein Nervensystem reagiert nicht auf die E-Mail.

Es reagiert auf die unbewusste Gefahr, die es damit verbindet.

Die Wurzeln dafür liegen oft nicht in einem einzelnen Trauma, sondern in subtilem Bindungstrauma.

Zum Beispiel, wenn du als Kind gelernt hast:

  • Liebe und Anerkennung sind an Leistung geknüpft.

  • Fehler werden mit Kritik, Scham oder Liebesentzug bestraft.

  • Deine Bedürfnisse wurden ignoriert oder ständig aufgeschoben (emotionale Vernachlässigung).

Um in diesem Umfeld zu überleben, hast du brillante Schutzstrategien entwickelt.

Das Problem? Diese Strategien laufen heute noch auf Autopilot.

Schutzstrategie 1:
Der Perfektionismus

  • Was du gelernt hast:
    "Fehler sind gefährlich. Nur wenn ich perfekt bin, bin ich sicher und werde geliebt."

  • Was heute passiert:
    Jede Aufgabe (die Präsentation, die E-Mail) ist kein Test deiner Fähigkeit mehr, sondern ein Test deines kompletten Wertes als Mensch. Die Angst vor der Scham des Scheiterns ist so riesig, dass dein System lieber "Freeze" drückt. Besser gar nicht anfangen, als es nicht perfekt zu machen.

Schutzstrategie 2:
Der Innere Kritiker & die Scham

  • Was du gelernt hast:
    "Mit mir stimmt was nicht." (Um die Bindung zu den Eltern zu schützen, muss das Kind die Schuld auf sich nehmen).

  • Was heute passiert:
    Jede neue Aufgabe weckt sofort diese innere Stimme: "Das schaffst du eh nicht." "Wer glaubst du, wer du bist?". Das Aufschieben (Prokrastination) ist dann eine Flucht vor diesem inneren Kritiker. Du vermeidest die Aufgabe, um dieser schmerzhaften Stimme nicht begegnen zu müssen.

Schutzstrategie 3:
Die Flucht vor dem Schmerz (Sucht)

  • Was du gelernt hast:
    (Wie Dr. Gabor Maté sagt) "Die Frage ist nicht: Warum die Sucht? Sondern: Warum der Schmerz?".

  • Was heute passiert:
    Das Handy, das stundenlange Scrollen auf Social Media, das plötzliche Putzen – das ist dein "Suchtmittel". Es ist die Flucht, die kurzfristige Erleichterung, die dich vor dem alten Schmerz (Wertlosigkeit, Scham, Angst) bewahrt, den die Aufgabe in dir auslöst.

Das erklärt, warum dein Kopf Alarm schlägt.

Aber wie genau macht dein Körper das, dass er sich von jetzt auf gleich "abschaltet"?

Dein Körper im "Shutdown":
Die Ampel in deinem Nervensystem

Die Polyvagal-Theorie erklärt das perfekt.

Stell dir dein Nervensystem wie eine Ampel vor:

  • GRÜN (Sicher & Sozial):
    Alles ist super. Du bist ruhig, verbunden, neugierig, kreativ. Nur hier kannst du wirklich produktiv sein.

  • GELB (Kampf oder Flucht):
    Stress! Gefahr! Dein Herz rast, du bist ängstlich, wütend, panisch. (Das ist die hektische Panik kurz vor einer Deadline).

  • ROT (Der "Freeze" / Shutdown):
    Lebensgefahr. Wenn Kampf (Gelb) oder Flucht (Gelb) unmöglich erscheinen, zieht dein Körper die Notbremse. Er stellt sich tot.

Prokrastination ist oft der "Rote" Zustand!

Dein System stuft die Aufgabe (wegen deines Perfektionismus/Traumas) als unentrinnbare Gefahr ein. Es springt vielleicht kurz auf Gelb ("Oh Gott, die Mail!"), findet keine Lösung und stürzt direkt auf ROT.

Und wie fühlt sich "Rot" an? Exakt:

  • Plötzliche, bleierne Müdigkeit.

  • "Brain Fog" (Nebel im Kopf).

  • Emotionale Taubheit.

  • Du "verlierst" dich stundenlang im Handy (das nennt man Dissoziation).

Viele erleben das als "Functional Freeze":
Du funktionierst nach außen weiter, lächelst, erledigst das Nötigste, aber innerlich bist du komplett abgeschaltet, taub und chronisch erschöpft.

Okay, ich bin also nicht faul, sondern im "Shutdown". Und jetzt?

Wie klettere ich da wieder raus, wenn meine Selbststeuerung oder Willenskraft offensichtlich nicht funktioniert?

Prokrastination überwinden:
Wie du deinem Nervensystem effektiv "Sicherheit" signalisierst. Tipps gegen Prokrastination

Wenn Prokrastination eine biologische Reaktion auf Gefahr ist, können wir sie nicht mit Druck bekämpfen.

Wir müssen die psychologische Sprache unseres Körpers sprechen. Und diese Sprache heißt: Sicherheit.

Weg 1: Das Fundament – Stopp den Kritiker (Selbstmitgefühl)
Das ist der wichtigste, nicht verhandelbare erste Schritt. Der innere Kritiker ("Du Faulpelz!") ist pures Benzin für den "Roten" Zustand.

  • Statt: "Reiß dich zusammen!"

  • Versuch das:
    Leg eine Hand auf dein Herz und sag (innerlich): "Wow, ich merke, ein Teil von mir hat gerade panische Angst. Das ist eine alte Reaktion. Danke, dass du mich beschützen willst. Aber ich bin jetzt, in diesem Moment, sicher." Das ist der erste Schritt zur Selbstregulation: Du wirst dein eigener, sicherer Hafen.

Weg 2: Den Körper zurückholen (Somatische "Erste Hilfe")
Du kannst dich nicht aus einem "Freeze" rausdenken. Dein Gehirn braucht Signale vom Körper, dass kein Säbelzahntiger da ist.

  • Übung 1: Umsehen (Orientieren)
    Schau dich langsam im Raum um. Finde 5 Dinge, die grün sind. Finde 4 Dinge, die rund sind. Benenne sie leise. Das signalisiert deinem Hirnstamm: "Umgebung ist sicher."

  • Übung 2: Länger Ausatmen
    Atme normal ein. Und atme doppelt so lange wieder aus, als ob du sanft durch einen Strohhalm pustest. Die lange Ausatmung ist der direkte "Entspannungs-Knopf" für deinen Vagusnerv. (Oder: Summe eine Melodie. Die Vibration beruhigt auch.)

  • Übung 3: Sanfter Druck
    Drück deine Füße fest in den Boden. Oder drück deine Hände gegen eine Wand. Fühle deine eigene Kraft. Das holt dich aus der Lähmung.

Weg 3: Mit der Angst verhandeln (Mikro-Schritte)
Jetzt ist dein System etwas ruhiger. Nähere dich der Aufgabe – aber nicht mit Zwang, sondern mit Neugier.

  • Die (trauma-informierte) 5-Minuten-Regel:
    Der Trick ist nicht "Hauptsache anfangen". Der Trick ist: "Ich mache es nur 5 Minuten, und danach darf ich entscheiden, ob ich aufhöre." Das gibt dir die Kontrolle zurück, die im Trauma-Zustand (und oft in der Kindheit) gefehlt hat.

  • Zerlege das Monster:
    Die Aufgabe "Präsentation fertigstellen" ist eine Bedrohung.

    • Sicherer Mikro-Schritt 1: "Datei öffnen und Titel eingeben." (Das war's. Datei schließen. Aufstehen. Du hast überlebt.)

    • Sicherer Mikro-Schritt 2: "Fünf Stichpunkte für die erste Folie schreiben." (Pause. Belohn dich bewusst mit einem Tee.)

Weg 4: Die Wurzel heilen (Arbeit mit Inneren Anteilen)
Langfristig liegt die Heilung darin, mit dem Anteil von dir zu sprechen, der so Angst hat.
Der "Aufschieber" ist oft ein Inneres Kind, das gelernt hat:
"Wenn ich still und unsichtbar bin, kann ich nichts falsch machen."
Anstatt diesen Anteil als "inneren Schweinehund" zu bekämpfen, fragen wir ihn:
"Wovor hast du so Angst? Was brauchst du von mir (dem Erwachsenen), um dich sicher zu fühlen?"

Wann ist der Punkt erreicht, an dem ich das nicht mehr allein schaffe?

Von der "Produktivität" (Aufschieberitis) zur "Sicherheit"

Wenn du merkst, dass diese Prokrastination dein Leben chronisch blockiert, du einen großen Leidensdruck verspürst, Schlafstörungen hast, deinen Job gefährdet und dir Depressionen oder eine Angststörung hinterlässt, dann ist es Zeit für professionelle Hilfe.

Das ist kein Versagen, das ist der mutigste Akt der Selbstfürsorge.

Suche gezielt nach traumasensibler Begleitung (wie Verhaltenstherapie oder Coaching), die versteht, dass es nicht um "Hacks" geht, sondern um die Heilung der Wurzel.

Der Weg aus dem Freeze führt nicht über mehr Druck. Er führt über Sicherheit.

Wenn du das nächste Mal in dieser Lähmung feststeckst, leg eine Hand auf dein Herz. Atme aus. Und erinnere dich:

Du bist nicht faul. Du bist nicht kaputt. Du bist im Schutzmodus.

Sei lieb zu dir.


Es ist an der Zeit, dich nicht länger selbst für das Aufschieben zu verurteilen.

Wenn du spürst, dass dein Nervensystem im "Shutdown" gefangen ist und du dir wünschst, aus diesem alten Trauma-Muster auszubrechen, um endlich wieder ein selbstbestimmtes, lebendiges Leben zu führen:
Mit meinem traumasensiblen Coaching begleite ich dich achtsam dabei, die Wurzeln dieser Blockaden zu heilen.

Hier findest du meine Angebote 🌱

Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit ♡


Ich bin Nicole.
Ich bin Coach für Neurosystemische Integration, ganzheitlich integrative Traumaarbeit

Ich begleite Menschen, die ihr Leben lang funktioniert und sich angepasst haben. Jetzt suchen sie eine Veränderung.

Sie wirken nach außen stark, sind innerlich aber am Rande der Erschöpfung.

Ich helfe ihnen, den Kreislauf aus Anpassung, Schuldgefühlen und Selbstzweifeln zu verlassen.

So finden sie den inneren Frieden, den sie sich schon lange wünschen.

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Warum du dich manchmal fühlst wie ein kleines Kind. Die Entstehung deines Inneren Kindes (und was Trauma und dein Selbstwert damit zu tun hat)

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Histrionische Persönlichkeitsstörung: Was, wenn "Drama" kein Spaß, sondern ein Zwang ist?