Warum positive Affirmationen & Co bei Trauma oft nicht wirken und was dir statt Affirmationen wirklich hilft

Affirmationen helfen nicht

Du hast dich auf den Weg gemacht, dir dein Leben irgendwie zu erleichtern und das unglaublich mutig.

Und wahrscheinlich hast du auch schon gemerkt, dass viele Ratschläge einfach nicht für dich passen. 

Positive Affirmationen sind da ein perfektes Beispiel:
Du sagst dir die Sätze vor, aber innerlich fühlt es sich wie eine Lüge an. Dieses Gefühl ist wichtig, denn es zeigt ein größeres Problem auf. Affirmationen sind nämlich nur einer von vielen gut gemeinten Tipps, die sich für Menschen mit einer schweren Vergangenheit oft wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen. Sie sind quasi die Spitze des Eisbergs.

Stell dir dein Nervensystem wie eine persönliche Landkarte vor. Bei manchen ist sie flach und übersichtlich. Bei Menschen, die in ihrer Kindheit viel durchgemacht haben, gleicht sie eher einem Hochgebirge mit tiefen Schluchten.

Die meisten Ratgeber – ob es nun um klassische Affirmationen, negative Gedanken auflösen oder andere Techniken geht – sind aber für die flache Ebene geschrieben. Kein Wunder, dass du damit im Gebirge abstürzt!

Dieser Text ist deine persönliche Gebirgs-Karte. Er zeigt dir, warum du nicht schuld bist, wenn Affirmationen & Co nicht funktionieren.

Lass uns gemeinsam die zehn häufigsten Wege anschauen, die in die Irre führen – und was dir wirklich hilft, deinen eigenen, sanften Weg zu finden.

 
 

Was hat deine Kindheit eigentlich mit deinem Stress von heute zu tun?

Wenn wir von Trauma sprechen, meinen wir oft nicht den einen großen Knall. Viel öfter ist es die ständige Unsicherheit oder das Gefühl, als Kind nicht wirklich gesehen und geschützt worden zu sein. Dein System hat damals gelernt, zu überleben.

Vielleicht versuchst du immer, es allen recht zu machen, hast ein extremes Kontrollbedürfnis, ein eher kleines Selbstwertgefühl oder lässt niemanden wirklich an dich heran?

Das sind keine Fehler in deiner Persönlichkeit!

Das waren damals brillante Strategien, um irgendwie durchzukommen. Was du heute an dir ablehnst, hat dir früher wahrscheinlich das Leben gerettet.

Dieser Dauerstress in der Kindheit hat Spuren in deinem Körper hinterlassen.

Stell es dir so vor:

  • Dein innerer "Rauchmelder" (die Amygdala) ist super sensibel eingestellt und piept bei der kleinsten Sache los.

  • Deine innere "weise Eule" (der Verstand), die für Ruhe und klare Gedanken zuständig ist, geht bei Alarm sofort offline.

  • Dein Körper schwimmt ständig in Stresshormonen, was dich total erschöpft und auslaugt.

Trauma ist also keine Geschichte, die du einfach vergessen kannst. Es ist ein Zustand deines Körpers, der im Überlebensmodus feststeckt. Und genau deshalb fühlen sich so viele Ratschläge einfach nur falsch an.

Aber wie genau hängt das zusammen?

Warum fühlst du dich oft entweder total überdreht oder komplett leer?

 
Window of Tolerance

Schon mal was vom “Wohlfühl - Fenster” gehört?

 

Das ist der Zustand, in dem du dich sicher, klar und entspannt fühlst. Du kannst mit dem Leben umgehen, ohne gleich aus der Haut zu fahren oder innerlich abzuschalten.

Das Tückische an frühem Trauma ist: Dieses Fenster wird winzig klein.

Der kleinste Stressfaktor ist dann keine Welle mehr, die du reiten kannst, sondern ein Tsunami, der dich umhaut. Du landest dann entweder:

  • Über dem Fenster (Kampf & Flucht):
    Du bist panisch, wütend, gestresst und kommst nicht zur Ruhe.

  • Unter dem Fenster (Erstarrung):
    Du fühlst dich taub, leer, depressiv und von allem abgeschnitten.

Die meisten Tipps sind für Leute mit einem riesigen Wohlfühl-Fenster gemacht.

Sie setzen voraus, dass du entspannt und klar denken kannst – genau das, was bei dir im Stressmodus nicht geht.

Jemandem mit einem winzigen Fenster zu sagen, er solle "positiv denken" oder mal kognitiv seine "negativen Glaubenssätze" loslassen, ist wie einem Menschen mit gebrochenem Bein zu sagen, er solle einen Marathon laufen. Es geht nicht!

Und wenn du es versuchst und scheiterst, gibst du dir die Schuld. Dein Selbstbild bekommt noch mehr Risse. Aber nicht du bist das Problem, sondern der Ratschlag!

Lass uns mal schauen, welche Ratschläge das genau sind und was du stattdessen tun kannst. Ich lade dich ein, mit den sanfteren Methoden ein wenig zu experimentieren.

Zehn gut gemeinte Ratschläge, die in die Irre führen – und was statt positiver Affirmationen & Co wirklich hilft

Affirmationen helfen nicht

1. Warum klappt "einfach loslassen" bei dir einfach nicht?

Der gut gemeinte Rat:
"Lass die Vergangenheit doch einfach los!"

Warum das für dich nicht geht:
Dein Körper weiß nicht, dass die Gefahr vorbei ist. Für ihn fühlt es sich an, als würde alles genau jetzt passieren. Loslassen zu wollen, ist wie einen Wasserball mit aller Kraft unter Wasser zu drücken – er wird dir mit Wucht wieder ins Gesicht springen und nur noch mehr Anspannung erzeugen.

Ein sanfterer Weg:
Statt mental krampfhaft "loszulassen", übe dich darin, physisch im Hier und Jetzt anzukommen. Dein Körper, der noch in der Vergangenheit feststeckt, braucht keine Anweisung, sondern eine Erfahrung. Die Erfahrung, dass er jetzt sicher ist.

So geht's:

  • Aktiviere deine Sinne (Die 5-4-3-2-1-Methode):
    Wenn du merkst, dass die Welle der Vergangenheit dich mitreißt, halte inne und erlaube dir sanft, die Gegenwart wahrzunehmen. Benenne laut oder in Gedanken:

    • 5 Dinge, die du sehen kannst:
      (Den Rand deines Laptops, die Maserung des Tisches, die Farbe deiner Socken...)

    • 4 Dinge, die du hören kannst:
      (Das Summen des Kühlschranks, ein Auto draußen, deinen eigenen Atem...)

    • 3 Dinge, die du fühlen kannst:
      (Den Stoff deiner Hose auf der Haut, deine Füße im Schuh, die Lehne im Rücken...)

    • 2 Dinge, die du riechen kannst:
      (Den Kaffee, das Waschmittel in deinem Pullover...)

    • 1 Ding, das du schmecken kannst:
      (Den Rest vom Tee, oder nimm einfach einen Schluck Wasser.) Diese Übung zwingt dein Gehirn aus dem alten Alarmzentrum zurück in den denkenden, wahrnehmenden Teil.

    1. Finde "Bodenkontakt":
      Das ist die einfachste und oft effektivste Methode. Spüre ganz bewusst den Kontakt deines Körpers mit der Welt.

      • Füße auf dem Boden:
        Drücke deine Füße fest auf den Boden. Wippe ein bisschen vor und zurück. Fühle die Textur des Teppichs oder die Kühle des Bodens.

      • Hände:
        Nimm einen "Anker-Gegenstand" in die Hand – einen Schlüsselbund, einen glatten Stein, einen Igelball. Fühle sein Gewicht, seine Kälte, seine Textur.

      • Gesäß:
        Spüre ganz bewusst dein Gewicht auf dem Stuhl. Rutsche ein wenig hin und her.

    Das sendet eine direkte, non-verbale Botschaft an dein Nervensystem:
    "Ich bin nicht dort und damals. Ich bin hierund jetzt. Und hier und jetzt bin ich sicher." Du lässt nicht "los", sondern du holst dich zu dir zurück in die Gegenwart.


2. Warum Affirmationen sich manchmal wie eine Lüge anfühlen

Der gut gemeinte Rat:
"Sage dir einfach immer wieder:  "Ich bin liebenswert" oder "ich bin selbstbewusst"

Warum das für dich nicht geht:
Wenn dein ganzes System "Ich bin in Gefahr!" schreit, fühlt sich so ein Spruch wie eine dreiste Lüge an. An diesem Punkt merkst du, dass Affirmationen nicht helfen, es fühlt sich sogar falsch an. In denen Affirmationen benutzt werden, versuchst du, deine eigene, tief gefühlte Wahrheit zu übertünchen, was das Gefühl verstärken kann, dass mit dir etwas nicht stimmt.

Ein sanfterer Weg:
Erlaube dir, dass beides da sein darf – dein aktuelles Gefühl und eine neue Möglichkeit. Statt dich mit einem Satz zu überfahren, der sich fremd anfühlt, baue eine sanfte Brücke:

Anstelle von der Aussage "Ich bin liebenswert" versuche es mit: „Ich bin offen für die Möglichkeit, dass ich liebenswert sein könnte, auch wenn ich es jetzt gerade nicht fühlen kann.“

Anstelle von den positiven Gedanken „Ich bin selbstbewusst“ probiere: „Ich fühle mich unsicher, und das ist okay. Ich erlaube mir, heute eine winzige Sache zu tun, die sich ein bisschen mutiger anfühlt.“


3. Warum kann stille Meditation im Unterbewusstsein Panik auslösen?

Der gut gemeinte Rat: "Setz dich hin, schließ die Augen und meditiere."

Warum das für dich nicht geht:
Für einen Körper, der ständig auf der Hut ist, bedeuten Stille und geschlossene Augen nur eins: absolute Verletzlichkeit. Dein innerer "Rauchmelder" schlägt sofort Alarm. Statt mentaler Entspannung erlebst du vielleicht pure Panik.

Ein sanfterer Weg:
Gib dir selbst die Kontrolle und die Wahl zurück. Vergiss die starren Regeln der Meditation. Es geht nicht darum, eine Leistung zu erbringen, sondern darum, einen sicheren Raum für dich zu schaffen, um einen kurzen Moment bei dir anzukommen. Hier sind ein paar Bausteine, aus denen du dir deine eigene, sichere Praxis zusammenstellen kannst:

  • Lass die Augen offen:
    Du musst sie nicht schließen. Lass deinen Blick einfach weich auf einem Punkt ruhen, der ein paar Meter vor dir auf dem Boden liegt. Du musst nichts anstarren, sondern einfach nur zulassen, dass deine Umgebung da ist. Das signalisiert deinem Nervensystem: "Ich habe die Lage im Blick, ich bin nicht wehrlos."

  • Starte winzig klein:
    Vergiss 20-Minuten-Meditationen. Starte mit 30 Sekunden oder einer Minute. Eine Minute, in der du dich relativ sicher fühlst, ist unendlich heilsamer als zehn Minuten voller Panik. Das Ziel ist, deinem System eine neue, positive Erfahrung zu schenken, keinen weiteren Beweis dafür, dass Entspannung für dich nicht funktioniert.

  • Erlaube sanfte Bewegung:
    Stillsitzen kann sich wie Gefangensein anfühlen. Erlaube dir stattdessen, dich sanft zu bewegen. Das kann ein leichtes Wiegen des Oberkörpers sein, ein langsames Gehen durch den Raum, bei dem du deine Fußsohlen spürst, oder sogar sanftes Dehnen. Bewegung hilft, nervöse Energie abzubauen, anstatt sie im Körper einzuschließen.

  • Finde einen sicheren Anker:
    Der Fokus auf den Atem kann für viele Menschen mit Trauma beängstigend sein, weil der Atem oft mit Angst (Luftnot) verbunden ist. Finde stattdessen einen anderen Anker. Das kann das Gefühl deiner Hände auf den Oberschenkeln sein, der Kontakt deines Rückens mit der Stuhllehne oder das bewusste Spüren deiner Füße auf dem Boden. Konzentriere dich auf das, was sich am festesten und realsten anfühlt.

Frage dich vor jeder Übung: "Was brauche ich jetzt, um mich ein kleines bisschen sicherer zu fühlen?" Das ist die einzige Regel, die zählt.


4. Warum ist "Fühl es einfach" ein gefährlicher Ratschlag?

Der gut gemeinte Rat:
"Du musst deine Gefühle einfach zulassen, um zu heilen."

Warum das für dich nicht geht:
Traumatische Gefühle sind Tsunami-Wellen aus Terror oder Wut. Ohne ein sicheres Ufer reißt dich diese Welle einfach mit. Das ist keine Heilung, das ist eine Wiederholung der alten Überforderung.

Ein sanfterer Weg:
Vergiss das heldenhafte Eintauchen in den Ozean des Schmerzes. Das Geheimnis liegt im sanften Pendeln zwischen dem schwierigen Gefühl und einem sicheren Anker im Hier und Jetzt. Es ist wie ein behutsames Training für dein Nervensystem. So geht's:

  1. Schritt 1: Finde ZUERST deinen sicheren Anker.
    Bevor du dich dem Gefühl auch nur näherst, suche dir bewusst etwas im gegenwärtigen Moment, das sich sicher, neutral oder sogar angenehm anfühlt. Das kann sein:

    • Das Gefühl deiner Füße, die fest auf dem Boden stehen.

    • Der Kontakt deines Rückens mit der Stuhllehne.

    • Der Anblick einer Pflanze oder einer beruhigenden Farbe im Raum.

    • Das Gefühl einer weichen Decke oder die Wärme einer Teetasse in deinen Händen. Nimm dir einen Moment Zeit, um diesen Anker wirklich wahrzunehmen.

  2. Schritt 2: Der kurze Besuch (die "Zehenspitze").
    Wenn du dich mit deinem Anker verbunden fühlst, erlaube dir, für einen winzigen Moment – vielleicht nur für einen oder zwei Atemzüge – in die schwierige Empfindung in deinem Körper hineinzuspüren. Frage dich dabei neugierig, nicht wertend: "Wo genau in meinem Körper spüre ich das? Ist es ein Druck in der Brust? Ein Knoten im Bauch?" Du musst nichts analysieren oder verändern, nur kurz wahrnehmen.

  3. Schritt 3: Die bewusste Rückkehr.
    Und dann, ganz bewusst und absichtlich, lenke deine volle Aufmerksamkeit wieder zurück zu deinem sicheren Anker. Spüre wieder deine Füße auf dem Boden, betrachte wieder die Pflanze oder fühle die Wärme der Tasse. Bleibe dort mit deiner Aufmerksamkeit, bis du merkst, wie dein System sich wieder ein kleines bisschen beruhigt.

Dieser Prozess des Pendelns ist wie ein Muskelaufbau für dein Nervensystem. Du zeigst ihm in kleinen, machbaren Dosen:
"Schau, wir können das kurz berühren, und wir können auch wieder in Sicherheit zurückkehren. Das Gefühl wird uns nicht verschlingen."

So erweiterst du ganz langsam und sicher dein eigenes Wohlfühl-Fenster, anstatt dich immer wieder selbst zu überfluten.


5. Wie kann Spiritualität zur Flucht vor dem Schmerz werden?

Der gut gemeinte Rat:
"Alles geschieht aus einem Grund. Es war eine Lektion für deine Seele."

Warum das für dich nicht geht:
Das kann sich anfühlen, als würde dein Schmerz einfach wegerklärt und nicht ernst genommen. Es ist eine Flucht vor echten, menschlichen Gefühlen wie Wut und Trauer, die aber gefühlt werden müssen, um zu heilen.

Ein sanfterer Weg:
Eine geerdete Spiritualität. Eine heilsame Spiritualität flieht nicht vor dem Schmerz, sondern holt ihn mit ins Boot. Sie versucht nicht, das Schreckliche schönzureden, sondern gibt dir die Kraft, das Schreckliche zu halten. Anstatt deinen Schmerz zu entwerten, ehrt sie deine Erfahrung. So kannst du das praktisch umsetzen:

  • Trenne das Ereignis von der Bedeutung:
    Erlaube dir den Gedanken: "Was passiert ist, war einfach nur falsch und schrecklich. Punkt." Es braucht keinen kosmischen Grund. Die "Lektion" oder das Wachstum liegen nicht im Trauma selbst, sondern in deinem mutigen und mühsamen Prozess der Heilung danach. Dein Überleben und deine Heilung sind der heilige Akt, nicht der Schmerz, der dir zugefügt wurde.

  • Erkenne deine Gefühle als heilig an:
    Anstatt Wut oder Trauer als "niedere Schwingungen" abzutun, erkenne sie als heilige Botschafter an. Deine Wut ist heilig – sie ist die Kraft, die deine verletzten Grenzen schützt. Deine Trauer ist heilig – sie ist der Ausdruck der Liebe für das, was du verloren hast oder nie bekommen hast. Deine Angst ist heilig – sie zeigt dir, wo du Sicherheit und Schutz brauchst.

  • Stelle andere Fragen:
    Anstatt dich zu fragen: "Warum musste ich das erleben?", was dich oft in eine Endlosschleife der Verzweiflung führt, frage lieber:

    • "Wie kann ich mir in diesem Schmerz mitfühlend zur Seite stehen?"

    • "Welche spirituelle Ressource – sei es die Natur, ein Gebet, ein Mantra, ein Lied – kann mich jetzt geradehalten und erden?"

Eine geerdete Spiritualität will dich nicht über deine Menschlichkeit erheben. Sie will dir helfen, tief und mitfühlend in deine Menschlichkeit hinabzusteigen. Es geht darum, das Göttliche im Unperfekten und Chaotischen zu finden, nicht in der Flucht davor.



6. Warum können intensive Atemtechniken dein System überfluten?

Der gut gemeinte Rat:
"Mach intensives Breathwork, um alles rauszulassen!"

Warum das für dich nicht geht:
Solche Techniken können dein bereits gestresstes Nervensystem komplett überfordern. Es kann sich anfühlen wie die ursprüngliche Situation der Hilflosigkeit und Panik – und somit mehr schaden als nutzen.

Ein sanfterer Weg:
Das Ziel ist nicht die explosive Entladung, sondern die sanfte Regulation. Du willst deinem Nervensystem nicht noch mehr Stress machen, sondern ihm beibringen, wie es von selbst wieder in den Ruhemodus findet. Der Schlüssel dazu ist dein "Ruhenerv" (der Vagusnerv), und den aktivierst du am besten über eine ruhige, verlängerte Ausatmung. Hier sind ein paar Beispiele, wie das geht:

  • Der sanfte verlängerte Ausatem (die einfachste Methode):
    Atme ganz normal und ohne Anstrengung durch die Nase ein (zähle dabei vielleicht innerlich bis 3 oder 4). Dann atme langsam und sanft durch den Mund wieder aus, als würdest du ganz sacht durch einen Strohhalm pusten. Versuche, den Ausatem ein klein wenig länger zu machen als den Einatem (zähle dabei vielleicht bis 5 oder 6). Wiederhole das ein paar Mal. Es geht nicht um Perfektion, sondern um die sanfte Einladung an deinen Körper, sich zu entspannen.

  • Die "Kastenatmung" (4x4 Atmung):
    Diese Technik ist super, um den Geist zu erden und einen Rhythmus zu finden. Stell dir ein Quadrat vor:

    1. Atme 4 Sekunden lang ein.

    2. Halte die Luft 4 Sekunden lang an (nur wenn sich das sicher anfühlt!).

    3. Atme 4 Sekunden lang aus.

    4. Halte die Luft 4 Sekunden lang an (wiederum: nur, wenn es sich gut anfühlt). Dieser gleichmäßige Rhythmus gibt deinem Gehirn etwas zu tun und beruhigt das System.

  • Der wichtigste Punkt:
    Der Atem ist dein Freund, kein Werkzeug, um dich zu zwingen. Sobald du merkst, dass dir schwindelig wird, du in Panik gerätst oder dich unwohl fühlst, höre sofort auf und kehre zu deiner ganz normalen Atmung zurück. Das Ziel ist, die Kontrolle zurückzugewinnen, nicht sie zu verlieren.


7. Muss man wirklich vergeben, um zu heilen?

Der gut gemeinte Rat:
"Du musst vergeben, sonst kannst du nicht heilen."

Warum das für dich nicht geht:
Erzwungene Vergebung fühlt sich wie Verrat an dir selbst an. Sie überspringt die wichtige und berechtigte Wut, die dir zeigt, wo deine Grenzen massiv verletzt wurden. Diese Wut ist pure Kraft für deine Heilung.

Ein sanfterer Weg:
Konzentriere dich auf deine innere Befreiung, nicht auf Vergebung. Du schuldest der Person, die dich verletzt hat, absolut nichts – auch nicht deine Vergebung. Das Ziel ist, dich selbst aus dem emotionalen und körperlichen Griff der Vergangenheit zu befreien. So sieht dieser Weg aus:

  1. Erlaube dir deine Wut (auf sichere Weise):
    Deine Wut ist kein Problem, sie ist eine Lösung. Sie ist die Energie, die "Nein!" schreit. Finde Wege, diese Wut auszudrücken, ohne dich oder andere zu verletzen. Das kann bedeuten:

    • Ein Kissen LANGSAM zu kneten. Spüre, wo im Körper die Wut feststeckt und lasse sie mit dem langsamen Kneten des Kissens nach und nach ab. Das kann eine Weile dauern, lohnt sich aber wirklich sehr.

    • Briefe zu schreiben, die du nie abschickst, in denen du alles unzensiert rauslässt.

    • In der traumasensiblen Therapie oder Begleitung dieser Wut Raum zu geben.

  2. Setze heute klare Grenzen:
    Der Schmerz der Vergangenheit wird oft durch Situationen in der Gegenwart getriggert, in denen deine Grenzen wieder nicht respektiert werden. Deine Heilung liegt darin, heute "Nein" zu sagen. Das kann "Nein" zu einem Kontakt bedeuten, "Nein" zu einer Bitte oder auch "Nein" zu deiner eigenen inneren kritischen Stimme. Jedes Mal, wenn du heute eine Grenze setzt, heilst du ein Stück der Vergangenheit.

  3. Erobere dir dein Leben zurück:
    Vergebung fokussiert sich auf den Täter. Innere Befreiung fokussiert sich auf dich. Nimm deine Energie und Aufmerksamkeit von der Vergangenheit ab und investiere sie in dein Leben im Hier und Jetzt. Was tut dir gut? Was bringt dir Freude? Wo fühlst du dich lebendig? Das ist der ultimative Weg, dir deine Kraft zurückzuholen.

Vergebung ist kein notwendiger Schritt zur Heilung. Wenn sie überhaupt jemals passiert, ist sie ein Nebenprodukt deiner eigenen, abgeschlossenen Heilung – ein Moment, in dem du vielleicht eines Tages aufwachst und merkst, dass die Sache dich emotional einfach nicht mehr festhält. Aber sie ist niemals eine Voraussetzung.


8. Warum reicht es nicht, nur über alles zu reden?

Der gut gemeinte Rat: "Sprich einfach darüber, dann wird es besser."

Warum das für dich nicht geht:
Trauma sitzt nicht nur im Kopf, sondern vor allem im Körper. Du kannst die Geschichte tausendmal erzählen, aber dein Körper bleibt im Alarmzustand gefangen, weil die Worte ihn oft nicht erreichen.

Ein sanfterer Weg:
Beziehe den Körper aktiv mit ein. Der Weg zur Heilung führt von "unten nach oben" (Bottom-Up). Das bedeutet, wir müssen dem Körper helfen, sich sicher zu fühlen, damit der Verstand (der Kopf) nachziehen kann. Anstatt dem Körper zu sagen, dass er sicher ist, helfen wir ihm, es zu fühlen. Das kannst du tun:

  1. Körperorientierte Therapien (wie Somatic Experiencing, SE):
    Diese Methoden fragen nicht "Was ist deine Geschichte?", sondern "Was spürst du jetzt gerade in deinem Körper?". Sie helfen dir, die im Nervensystem feststeckende Energie (wie eine angefangene Kampf- oder Fluchtreaktion, die nie beendet wurde) in winzigen, sicheren Dosen zu entladen. Es geht darum, dem Körper zu helfen, unterbrochene Bewegungen und Impulse auf eine sichere Weise zum Abschluss zu bringen.

  2. Traumasensibles Yoga:
    Das hat nichts mit komplizierten Posen oder Leistung zu tun. Dabei geht es um:

    • Wahlmöglichkeiten:
      Du entscheidest jederzeit selbst, ob du eine Übung mitmachst, sie veränderst oder einfach nur still dastehst. Das gibt dir die Kontrolle zurück, die du damals verloren hast.

    • Neugieriges Spüren:
      Statt einer Leistung geht es um die Frage: "Wie fühlt es sich an, wenn ich meine Füße auf dem Boden spüre?" Du lernst, deinen Körper wieder als sicheren Ort wahrzunehmen, statt als Quelle von Alarm.

  3. Einfache Alltags-Übungen zur Körperwahrnehmung:
    Du kannst jederzeit kleine Anker im Alltag einbauen.

    • Erdung:
      Mehrmals am Tag für 30 Sekunden innehalten und nur deine Füße auf dem Boden spüren. Stell dir vor, wie sie fest auf der Erde stehen.

    • Selbstberührung:
      Lege eine Hand auf dein Herz und die andere auf deinen Bauch. Spüre die Wärme und den sanften Druck deiner eigenen Hände. Das kann das beruhigende Hormon Oxytocin (Kuschelhormon) freisetzen und signalisiert deinem Körper: "Du bist nicht allein, ich bin bei dir."

    • Ausschütteln:
      Wenn du dich angespannt fühlst, schüttle bewusst deine Hände, Arme und Beine für eine Minute aus, als würdest du Wassertropfen abschütteln. Das hilft, die Anspannung aus den Muskeln zu lösen.

Diese Methoden senden eine klare, non-verbale Botschaft an die ältesten Teile deines Gehirns: "Die Gefahr ist vorbei. Du bist jetzt hier. Du bist jetzt sicher." Und das ist eine Botschaft, die Worte allein oft nicht transportieren können.


9. Warum ist es keine gute Idee, sich seinen Ängsten einfach zu stellen?

Der gut gemeinte Rat:
"Stell dich einfach deiner Angst, dann geht sie weg."

Warum das für dich nicht geht:
Wenn du unvorbereitet in eine Trigger-Situation gehst, ist die Überforderung vorprogrammiert. Das bestätigt nur deine tiefste Angst: "Ich kann das nicht, die Welt ist gefährlich."

Ein sanfterer Weg:
Erst die Sicherheit, dann der Mut. Du rennst nicht ungesichert auf eine Klippe zu. Du baust dir zuerst ein stabiles Fundament und ein Sicherheitsnetz. Das ist ein zweistufiger Prozess:

  1. Phase 1: Das Fundament bauen (Stabilisierung).
    Bevor du dich überhaupt einer Angst näherst, musst du lernen, dich im Hier und Jetzt sicher zu fühlen. Das ist dein "Werkzeugkasten" für den Notfall. Dazu gehört:

    • Erdungsübungen:
      Lerne, jederzeit deine Füße auf dem Boden zu spüren oder 5 Dinge zu benennen, die du siehst, und 4, die du hörst. Das holt dich aus dem Gedankenkarussell zurück in die Gegenwart.

    • Beruhigende Atmung:
      Übe die sanfte, verlängerte Ausatmung (wie in Punkt 6 beschrieben), wenn du nicht gestresst bist, damit dein Körper sie als "Sicherheitssignal" abspeichert.

    • Einen sicheren Ort finden:
      Das kann ein realer Ort sein (dein Sessel) oder ein Ort in deiner Vorstellung. Übe, dich an diesen Ort zu versetzen und zu spüren, wie es sich anfühlt, dort sicher zu sein. Diese Werkzeuge musst du parat haben, bevor du Phase 2 beginnst.

  2. Phase 2: Die sanfte, selbstbestimmte Annäherung.
    Wenn du dich mit deinen Werkzeugen sicher fühlst, kannst du beginnen, dich der Angst in winzigen, kaum merklichen Schritten zu nähern.
    Der Schlüssel ist: Du behältst jederzeit die volle Kontrolle.

    • Zerlege die Angst:
      Wenn deine Angst z.B. das Autofahren ist, ist der erste Schritt nicht, auf die Autobahn zu fahren. Der erste Schritt ist vielleicht, den Autoschlüssel in die Hand zu nehmen und dabei deine Füße auf dem Boden zu spüren. Der nächste Schritt ist, dich nur ins Auto zu setzen, ohne den Motor zu starten.

    • Nutze das Pendeln (siehe Punkt 4):
      Gehe nur so weit, bis du die Anspannung leicht aufsteigen spürst (vielleicht eine 2 oder 3 auf einer Skala von 10). Mehr nicht! Dann nimmst du sofort wieder deine Werkzeuge aus Phase 1 (z.B. deine Atmung, deine Füße spüren), bis du dich wieder vollständig beruhigt und sicher fühlst.

    • Du hast das Stopp-Schild:
      Du entscheidest, wann es genug ist. Du beendest die Übung immermit einem Gefühl der Sicherheit, nicht der Überwältigung.

Das Ziel ist nicht, die Angst mit Gewalt zu besiegen. Das Ziel ist, deinem Nervensystem hunderte Male in winzigen Schritten zu beweisen: "Schau, wir können das ein bisschen aushalten UND wir wissen, wie wir uns danach selbst wieder beruhigen können." Das ist es, was echtes, tiefes Vertrauen in dich selbst aufbaut.


10. Warum sind große Ziele oft der direkte Weg in die Lähmung?

Der gut gemeinte Rat:
"Setz dir große Ziele, das wird dich motivieren!"

Warum das für dich nicht geht:
Ein dauergestresstes Gehirn kann schlecht planen. Große Ziele wirken dann wie ein riesiger Berg, der dich sofort lähmt und zu dem Gedanken führt: "Ich bin ein Versager."

Ein sanfterer Weg:
Vergiss das traditionelle Projektmanagement für deine Heilung. Dein Nervensystem ist kein Businessplan. Du musst von "Leistung" auf "Präsenz" umschalten. Das erreichst du mit zwei Dingen: Mikro-Schritten und "Glimmers".

  1. Die Kraft der Mikro-Schritte (Gegen die Lähmung):
    Dein Gehirn ist überfordert von "Wohnung putzen" oder "Trauma heilen". Du musst die Aufgaben in so winzige, fast lächerlich kleine Schritte zerlegen, dass dein Alarm-System gar nicht erst anspringt.

    • Statt:
      "Ich muss die ganze Wohnung aufräumen."

    • Versuche:
      "Ich nehme eine Tasse und stelle sie in die Spüle." Das ist alles. Das ist der ganze Plan für diesen Moment.

    • Statt:
      "Ich muss mein Trauma heilen."

    • Versuche:
      "Ich spüre heute einmal für 30 Sekunden bewusst meine Füße auf dem Boden."

    • Statt:
      "Ich muss einen neuen Job finden."

    • Versuche:
      "Ich klappe nur den Laptop auf."

    Das Wichtigste:
    Feiere jeden dieser Mini-Schritte, als hättest du einen Marathon gewonnen! Denn für dein Nervensystem ist es ein riesiger Sieg über die Lähmung. Du baust damit "Selbstwirksamkeit" auf – das ist das tiefe, körperliche Gefühl von "Oh, ich kann ja doch Dinge tun." Das ist die wahre Motivation.

  2. Die Praxis der "Glimmers" (Gegen die Bedrohungs-Fokussierung):
    Ein traumatisiertes Nervensystem ist darauf trainiert, ständig nach Gefahr zu scannen. Es übersieht dabei oft die kleinen, sicheren oder schönen Momente. "Glimmers" sind das genaue Gegenteil von Triggern: Es sind winzige Momente von Sicherheit, Freude, Staunen oder Verbundenheit.

    • Was sie sind:
      Der erste Schluck warmer Kaffee, das Schnurren einer Katze, ein Sonnenstrahl auf deiner Haut, ein Lied, das du liebst, ein freundliches Nicken.

    • Die Übung:
      Dein Job ist es, "Glimmer-Detektiv" zu werden. Suche aktiv nach ihnen. Und wenn du einen findest, lass ihn nicht einfach vorbeiziehen. Halte für 20-30 Sekunden inne. Atme ihn bewusst ein. Spüre, wie sich dieser winzige Moment von Sicherheit oder Freude in deinem Körper anfühlt.

    • Warum das hilft:
      Das ist wie Bizeps-Training für deinen "Sicherheits-Muskel" im Gehirn. Du trainierst dein System aktiv darauf, nicht nur Bedrohung, sondern auch Sicherheit und Gutes wahrzunehmen.

Der Fokus verlagert sich damit radikal. Das Ziel ist nicht mehr "irgendwann geheilt zu sein".
Das Ziel ist: "Kann ich mir in diesem Moment ein winziges bisschen Gutes tun oder einen winzigen Schritt tun?" Die Heilung ist dann kein Projekt, das du managst, sondern etwas, das organisch aus dieser beständigen, liebevollen Zuwendung zu dir selbst im Hier und Jetzt entsteht.


Genug von Ratschlägen, die dich überfordern ?

Dein Nervensystem lügt nicht. Es ist Zeit, ihm zuzuhören und ihm das zu geben, was es wirklich braucht: Sicherheit.

Wenn du neugierig bist, wie sich ein Weg anfühlt, der nicht gegen deinen Körper, sondern mit ihm arbeitet, lade ich dich ein, einen Blick auf mein traumasensibles Coaching-Angebot zu werfen. 🌱


Über Mich Nicole Wöller

Ich bin Nicole,

zertifizierter Coach für NI Neurosystemische Integration® ganzheitlich integrative Traumaarbeit

Ich begleite Menschen, die ihr Leben lang funktioniert und sich angepasst haben. Jetzt suchen sie eine Veränderung.

Sie wirken nach außen oft stark, sind innerlich aber am Rande der Erschöpfung.

Ich helfe ihnen, den Kreislauf aus Anpassung, Schuldgefühlen und ständigen Selbstzweifeln zu durchbrechen.

So finden sie endlich den inneren Frieden, den sie sich schon lange wünschen.

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