Dysregulation des Nervensystems: Wenn dein inneres Alarmsystem nie wirklich zur Ruhe kommt
Ich erinnere mich an eine Situation, die von außen betrachtet ganz unscheinbar war, weil ich es gar nicht anders gewohnt war.
Ich saß in einem Café und wartete auf eine Freundin.
Ein freier Nachmittag, mein Lieblingsgetränk, kein Termindruck.
Und trotzdem: Mein Körper war angespannt, mein Blick wanderte ständig umher, Gedanken sprangen von einem Thema zum nächsten. Ich konnte einfach nicht abschalten, ich war total unruhig.
Ich war da – aber eigentlich nicht wirklich anwesend.
Damals hätte ich nicht gewusst, wie ich das nennen soll. Heute weiß ich:
Mein Nervensystem war chronisch dysreguliert.
Es suchte weiter nach Gefahr, obwohl längst keine mehr da war.
Was bedeutet ein "dysreguliertes Nervensystem"?
Ein dysreguliertes Nervensystem ist wie ein innerer Alarm, der zu fein eingestellt ist – er springt schon bei kleinen Dingen an und lässt sich nur schwer wieder beruhigen.
Das kann sich so anfühlen:
Du bist ständig unruhig oder angespannt – selbst in ruhigen Momenten.
Du funktionierst, aber innerlich bist du erschöpft oder leer.
Du willst Nähe – und vermeidest sie gleichzeitig.
Du überforderst dich – und fühlst dich dann wie gelähmt.
Das liegt nicht an dir oder deinem Charakter.
Sondern an einem Nervensystem, das gelernt hat, wachsam zu sein, um zu überleben.
Man kann auch sagen:
Du bist ständig im autonomen Nervensystem unterwegs.
Was ist das autonome Nervensystem?
Es ist der Teil deines Nervensystems, der alle lebenswichtigen Funktionen in deinem Körper, ohne dass du bewusst eingreifen musst – Atmung, Herzschlag, Verdauung, Temperaturregulation.
Es ist der Teil deines Nervensystems, der dich rund um die Uhr begleitet und blitzschnell auf wahrgenommene Gefahr oder Sicherheit reagiert.
Es besteht aus zwei Hauptanteilen:
dem Sympathikus (Aktivierung, Leistung, Flucht/Kampf) und dem Parasympathikus (Erholung, Verbindung, Rückzug).
Wenn du dauerhaft im Stress bist, ist dein autonomes Nervensystem aus dem Gleichgewicht – und du kannst dich weder richtig erholen noch aktiv entspannen.
Dein Nervensystem verstehen -
Sympathikus und Parasympathikus
💥 Was macht der Sympathikus?
Der Sympathikus bringt dich in Bewegung.
Er hilft dir, aktiv zu sein, Herausforderungen zu meistern, für dich einzustehen oder morgens aus dem Bett zu kommen.
Er wird aber auch aktiviert, wenn dein Körper Gefahr wittert.
Dann sorgt er für Kampf- oder Fluchtenergie:
Dein Herz schlägt schneller, dein Atem wird flacher, dein Denken schaltet ab und du wechselst in Millisekundenschnelle in den Überlebensmodus.
Wenn der Sympathikus zu lange aktiv bleibt, kann er folgende Symptome hervorrufen:
Getriebenheit, inneres Hetzen, ständige Wachsamkeit,
Reizbarkeit, Unruhe, ständiges Multitasking,
Schwierigkeiten beim Einschlafen oder Abschalten.
🧘 Was macht der Parasympathikus?
Der Parasympathikus ist dein innerer Rückzugsort.
Er hilft dir zu entspannen, durchzuatmen, dich zu verbinden – mit dir selbst und mit anderen.
Doch der Parasympathikus hat zwei Gesichter:
Im gesunden Zustand bringt er (mentale) Ruhe, Nähe, Achtsamkeit und Erholung.
Im Notfall-Modus kann er in die Erstarrung kippen: Du wirst dann still, ziehst dich zurück, bist wie „nicht mehr da“.
Das kann sich so anfühlen:
innere Leere, emotionale Taubheit,
Rückzug, Antriebslosigkeit,
das Gefühl: „Ich funktioniere noch, aber ich fühle nichts mehr.“
Das Stresstoleranzfenster -
Der innere Spielraum deines Nervensystems
Stell dir dein Nervensystem wie ein Fenster vor – dein Stresstoleranzfenster.
In diesem Bereich fühlst du dich stabil, handlungsfähig, verbunden mit dir und deiner Umwelt.
Wenn du innerhalb deines Fensters bleibst, kannst du:
mit Stress umgehen,
Gefühle wahrnehmen und ausdrücken,
dich selbst regulieren.
Bei (Bindungs-)trauma ist dieses Fenster oft verengt:
kleine Reize lösen große Reaktionen aus,
dein Nervensystem rutscht schnell in Alarm oder Erstarrung,
es fehlt der Weg zurück zur Ruhe.
Zur besseren Veranschaulichung, findest du hier Abbildungen des Stresstoleranzfensters. ⬇️
Stresstoleranzfenster in Balance
Stresstoleranzfenster unter Stress
(die Schwankungen in der Mitte treten dann nach oben oder unten aus)
Wie Bindungstrauma dein Nervensystem prägt und dysreguliert
In deiner frühen Kindheit war dein Nervensystem noch sehr formbar.
Es hat sich an dem orientiert, was du gespürt hast – nicht nur an dem, was gesagt wurde.
Wenn du emotionale Unsicherheit erlebt hast – z. B. durch:
fehlende Co-Regulation,
emotionale Vernachlässigung,
widersprüchliche Nähe,
…dann hat dein System gelernt:
Ich muss wachsam sein, um sicher zu sein.
Diese Muster waren damals notwendig – heute hindern sie dich vielleicht daran, in deinem eigenen Körper wirklich zur Ruhe zu kommen.
Dein Nervensystem kann zwischen ständiger Über- und Untererregung hin- und her schwanken oder latent Über- oder Untererregt sein.
Zur besseren Veranschaulichung findest Du hier eine Abbildung eines chronisch dysregulierten Nervensystems. ⬇️
Chronisch dysreguliertes Nervensystem
Kleine Schritte um ein dysreguliertes Nervensystem zu regulieren - Regulation im Alltag
Manchmal sind es die kleinsten Dinge, die den größten Unterschied machen – besonders, wenn dein Nervensystem gerade überfordert oder untererregt ist.
Deshalb ist es hilfreich, deine Regulation bewusst an den jeweiligen Zustand anzupassen.
Ich empfehle Dir, diese Übungen fest in Deinen Tag einzuplanen und immer wieder zu wiederholen.
Meine Klienten stellen sich z. Bsp. einen Alarm im Handy ein, um an die Übungen erinnert zu werden.
Viele berichten, dass durch das kontinuierliche üben, schon nach einigen Wochen mehr innere Ruhe in ihrem Alltag zu spüren ist.
Wenn du dich übererregt fühlst (Sympathikus-Dominanz)
In solchen Momenten ist dein System im „Fight-or-Flight“-Modus – also auf Flucht oder Angriff eingestellt. Um dich wieder zu regulieren, kann Folgendes helfen:
Orientierung im Raum:
Nimm dir bewusst Zeit, um dich langsam umzuschauen.
Zähle z. Bsp. alle schwarzen Dinge, die du siehst.
Besonders effektiv ist diese Übung, wenn du laut dabei zählst.Atemübungen:
Atme ruhig ein, zähle bis drei – atme langsam aus und zähle bis sechs.
Diese 3/6-Atmung hilft deinem System, in die Ruhe zu finden.Blickverankerung:
Fixiere mit deinen Augen einen Punkt im Raum, spüre dabei deine Füße am Boden.Kontakt zur Umgebung:
Halte eine warme Tasse, spüre deine Kleidung, nimm Geräusche bewusst wahr. Alles, was dir hilft, dich im Hier und Jetzt zu verankern.
Wenn du dich untererregt fühlst (Parasympathische Erstarrung)
Hier ist dein System in einer Art „Shutdown“ – es schützt dich durch Rückzug oder Erstarrung. Du brauchst jetzt sanfte Aktivierung:
Leichtes Wiegen:
Setze dich bequem hin und wiege deinen Oberkörper sanft von einer Seite zur anderen – wie ein beruhigendes Schaukeln.Körper abklopfen oder ausstreichen:
Beginne bei den Armen, arbeite dich langsam über Schultern und Brust bis zu den Beinen vor. Sei dabei achtsam und freundlich mit dir.Mini-Bewegungen:
Strecke dich wie nach dem Aufwachen, rolle die Schultern, wippe mit den Füßen. Alles darf leicht und langsam sein.Stimme nutzen:
Summen, leise Töne oder einfache Laute – das aktiviert deinen Vagusnerv und bringt Energie zurück.
Diese Übungen helfen dir dabei, wieder Zugang zu dir zu finden – nicht, indem du „funktionieren“ musst, sondern indem du dich einlädst, in kleinen Dosen wieder ins Spüren zu kommen.
Reflexionsfragen
Wann fühle ich mich innerlich übererregt oder wie erstarrt?
👉 Beispiel:
Vielleicht merkst du ein Herzklopfen, innere Unruhe, ständige Gedanken oder Spannungen im Nacken – dann ist dein System im „Fight-or-Flight“.Oder du fühlst dich wie betäubt, leer oder abwesend – dann bist du vielleicht im „Freeze“.
Lege eine Hand auf dein Herz oder deinen Bauch und atme bewusst. Auch ein kurzer Bodenkontakt mit beiden Füßen kann helfen, dich zu spüren. Nimm wahr, ohne zu bewerten – das ist bereits ein erster Schritt in Richtung Regulation.
Was hilft mir, wieder in Kontakt mit mir zu kommen um mich ausgewogen zu fühlen?
🌱 Beispiel:
Ein kurzer Spaziergang mit bewusstem Blick auf Farben und Formen, eine Tasse Tee in Stille trinken, barfuß auf den Boden stehen und den Kontakt spüren, den Körper strecken oder schütteln.Vielleicht hilft dir auch Musik, Summen oder eine ruhige Atemübung, um dich wieder bei dir zu verankern.
Welcher innere Anteil meldet sich gerade – und was braucht er, welches befinden hat er gerade?
🌱 Beispiel:
Vielleicht spürst du den Anteil, der immer alles richtig machen will – er braucht gerade Entlastung, Anerkennung oder einfach eine Pause.Oder der zurückgezogene Anteil meldet sich – dann könnte ein innerer Satz helfen wie: „Ich sehe dich. Es ist okay, dass du gerade Schutz brauchst.“
Wie kann es weitergehen?
Mein Coaching Angebot für dich -
um dein Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen
In meiner traumasensiblen Begleitung verbinde ich innere Anteile-Arbeit mit körpernaher Regulation.
Du lernst, dein Nervensystem besser zu verstehen – und die Schutzmuster, die dich heute vielleicht noch bremsen, liebevoll zu wandeln.
Wenn du dir Begleitung auf deinem Weg wünschst und deinem dysregulierten Nervensystem deine Aufmerksamkeit schenken möchtest, schau dir gern mein Angebot an:
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Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit ♡